Die Ermahnung meiner Seele – von Khalil Gibran
Diese Gedanken bewegen mich immer wieder neu. Die wunderbare Sprache und die spürbare Weisheit hinter den Worten haben mich so beeindruckt, das ich dieses Gedicht unbedingt auf meinem Blog teilen wollte. Khalil Gibran, ein höchst-spiritueller Mensch, der Antworten auf Fragen gefunden hat die die Menschen nach wie vor beschäftigen. Ich wünsche dir, liebe/r Leser/in viel Freude beim Lesen und würde mich freuen, wenn der Text bei euch ebenso wunderbar nachwirkt wie bei mir.
Die Auszüge stammen aus dem Buch „Die Söhne der Göttin“, erschienen im Goldmann Verlag
Meine Seele ermahnte mich, und sie lehrte mich, das zu lieben was die Menge verabscheut, und mich mit dem anzufreunden, den diese schmäht.
Meine Seele zeigte mir, das die Liebe nicht nur auf den stolz ist, der liebt, sondern auch auf den, der geliebt wird.
Ehe mich meine Seele ermahnte, glich die liebe in meine Herzen einem dünnen Faden, der zwischen zwei Haken gespannt ist.Doch nun ist sie ein Ruf geworden, dessen Anfang sein Ende ist und dessen Ende sein Beginn. Sie umgibt jedes Wesen und streckt sich aus, um alles zu umarmen, was sein wird.
Meine Seele beriet mich, und sie lehrte mich, die verborgene Schönheit der Oberfläche, der Gestalt und der Farben wahrzunehmen. Sie ließ mich auf das achten, was die Menschen hässlich nennen, bis es seine Anmut und seinen Reiz offenbarte.
Ehe mir meine Seele beistand, hielt ich die Schönheit für eine zitternde Fackel in aufsteigendem Rauch. Jetzt, da der Rauch verschwunden ist, sehe ich nichts als die Flamme.
Meine Seele ermahnte mich, und sie ließ mich auf jene Stimmen hören, die weder durch Zunge noch Kohlkopf oder Lippen geäußert werden. Ehe mich meine Seele ermahnte, vernahm ich nur Geschrei und Klagen.
Doch nun kümmere ich mich eifrig um die Stille, und ich vernehme ihre Choräle und wie sie die Hymnen der Zeiten und die Lieder des Firmaments singt und die Geheimnisse des Unsichtbaren verkündet.
Meine Seele ermahnte mich, und sie lehrt mich, den Wein zu trinken, der nicht gekeltert werden kann und der auch nicht aus Kelchen fließt, die von Händen hochgehoben und von Lippen berührt werden.
Bevor meine Seele mich ermahnte, glich mein Durst einem matten Funken, der verborgen in der Asche liegt und von einem Tropfen Wasser gelöscht werden kann.
Doch nun wurde aus meinem Verlangen mein Kelch, aus meiner Begeisterung mein Wein und aus meiner Einsamkeit meine Trunkenheit; und selbst in diesem unstillbaren Durst liegt ewige Freude.
Meine Seele ermahnte mich, und sie lehrt mich, das zu berühren, was noch nicht Fleisch geworden ist. Sie enthüllte mir, dass alles, was wir anfassen, ein Teil unseres Wünschens ist.
Jetzt haben sich meine Finger dem Nebel zugewandt, und sie durchdringen das Sichtbare im all und vermengen sich mit dem Unsichtbaren.
Meine Seele lehrte mich, jenen Duft einzuatmen, den weder Myrrhe noch Weihrauch ausströmen. Bevor meine Seele mich dies lehrte, sehnte ich mich nach dem Wohlgeruch der Gärten, in Duftgefäßen und in Weihrauchschalen.
Doch nun kann ich jenen Duft genießen, der nicht durch das Abbrennen von Opfergaben entsteht. Und ich fülle mein Herz mit einem Wohlgeruch, den ein Windhauch aus dem All niemals herbeitragen kann.
Meine Seele ermahnte mich, uns sie lehrt mich zu sagen: „Ich bin bereit“, sobald Unbekanntes und Gefahr mich rufen.
Bevor meine Seele mich ermahnte, antwortete ich allein mit der Stimme des Schreihalses, den ich kannte, und ging nur auf leichten und ebenen Wegen.Nun ist das Unbekannte zu einem Streitross geworden, das ich besteigen kann, um der Gefahr zu begegnen; und die Ebene hat sich in eine Leiter verwandelt, auf deren Sprossen ich den Gipfel erklimmen kann.
„Miss nicht die Zeit“, sprach meine Seele zu mir, „indem du sagst, dieses war gestern und jenes wird morgen sein.“
Denn ehe meine Seele zu mir sprach, hielt ich die Vergangenheit für eine Epoche, die nicht wiederkehrt, und die Zukunft für einen Zeitabschnitt, der niemals erreicht werden kann.
Jetzt aber weiß ich, dass ein Augenblick der Gegenwart die gesamte Zeit in sich birgt, und in ihm liegt all das, was man erhoffen, tun und verwirklichen kann.
Meine Seele ermahnte mich, und sie riet mir, nicht die Welt zu begrenzen, indem ich sage: „Hier, da und dort.“
Bevor meine Seele mich ermahnte, meinte ich, jeder Ort an den ich ging, sei weit weg von jedem anderen entfernt.
Jetzt habe ich erfahren, dass der Ort, an dem ich bin, auch immer alle anderen Orte mit einschließt; und die Entfernungen in sich.
Meine Seele ermahnte mich und hielt ich an, wach zu bleiben, während die anderen schlafen, und mich dem Schlummer hinzugeben, wenn die anderen aufstehen.
Ehe meine Seele mich dies lehrte, konnte ich in meinem Schlaf die Träume der anderen nicht sehen, und sie achteten auch nicht auf die meinen.
Nun aber löse ich die Fesseln meiner Träume nicht eher als die anderen auf mich achten, und sie erheben sich nicht in den Himmel ihrer Träume, sobald ich mich nicht an ihrer Freiheit ergötze.
Meine Seele ermahnte mich und sprach: „Freue dich nicht zusehr über ein Lob und sei nicht bekümmert wegen eines Tadels.“
Ehe meine Seele mir dies riet, zweifelte ich stets am Wert meines Tuns.Nun habe ich erkannt, dass die Bäume im Frühling blühen und im Sommer Früchte tragen, ohne Lob zu erheischen, und dass sie im Herbst ihre Blätter verlieren und im Winter nackt dastehen, ohne dass sie jemand tadelt.
Meine Seele ermahnte mich und zeigte mir, dass ich weder ein Zwerg noch ein Riese bin.
Aber bevor mich meine Seele ermahnte, teilte ich die Menschheit in zwei Hälften: die Schwachen, die ich bemitleidete, und die Starken, denen ich nachfolgte und denen ich nicht widersprach.
Doch jetzt habe ich gelernt, dass ich wie beide bin und aus denselben Stoff entstanden. Mein Ursprung ist der ihre, mein Gewissen ist das ihre, mein Hader ist der ihre, und ihre Wanderschaft ist auch die meine.
Wenn sie sündigen, bin ich auch ein Sünder. Tun sie Gutes, bin ich stolz auf ihre Wohltaten. Wenn sie sich erheben, erhebe ich mich mit ihnen; und werden sie träge, so teile ich ihre Faulheit
Meine Seele sprach zu mir: „Die Lampe die du trägst, ist nicht die deine, und das Lied das du singst, entstand nicht aus deinem Herzen; denn auch wenn du das Licht trägst, so bist du nicht das Licht, und wenn du auch eine Laute bist, so bist du nicht der Lautenspieler.“
Oh Bruder, meine Seele ermahnte mich, und sie lehrte mich vieles. Auch dich hat deine Seele ermahnt und hat dich ebenso viel gelehrt. Denn du und ich sind eins, es gibt keine Verschiedenheit zwischen uns, außer dass ich mit Nachdruck das verkünde was mein innerstes Selbst ist, während du das, was du in dir trägst, wie ein Geheimnis hütest. Doch auch in dieser Verschwiegenheit liegt auch eine Art von Tugend.
Der Maler und Dichter Khalil Gibran
wurde 1883 im libanesischen Becharré geboren. Die Jahre zwischen seine 12. und 27. Lebensjahr verbrachte er abwechselnd in seiner Arabischen Heimat, in Europa, wo er sich u.a. in Paris dem Künstlerkreis Rodin anschloss, und in den USA. 1910 ließ er sich endgültig in Amerika nieder, wo er sich fortan in erster Linie der Erneuerung der arabischen Literatur widmete. 1920 gründete er in NY die Arabische Literarische Gesellschaft. Khalil Gibran starb 1931 im amerikanischen Exil und wurde seinem Wunsch gemäß in einer Kapelle des Klasters Mar Sarkis in seinem Geburtsort Becharré beigesetzt.
Mehr über Khalil Gribra auf Wikipedia nachzulesen: https://de.wikipedia.org/wiki/Khalil_Gibran